(Canada 2007) Regie: Bruce McDonald Vorlage/Drehbuch: Maureen Medved Schnitt: Jeremiah Munce, Gareth C. Scales Darsteller: Ellen Page, Ari Cohen, Julian Richings
“My name is Tracey Berkowitz.
So stellt sich Tracey (Ellen Page) ihrem „Beifahrer“ vor. Dabei sitzt sie in der hinteren Reihe eines Linienbusses, ist in einen Duschvorhang eingewickelt und sieht nicht gerade so aus, als wäre es ihr in den letzten Tagen und Stunden gut ergangen. Der angesprochene Beifahrer sind übrigens wir, also die Zuschauer, die sich von Beginn des Filmes an sozusagen in Traceys Kopf befinden und nun in teilseise mehr als 20 Bildern gleichzeitig ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Phantasien miterleben dürfen. Wir sehen, dass sie in der Schule gemobbt wird, erleben die Sprach- und Verständnislosigkeit ihrer Eltern, begleiten sie zu ihrem Psychiater und sehen sie mit ihrem kleinen Bruder herumtollen. Schon zu Beginn wird uns klar, dass sich auch noch bedeutend düsterere Erinnerungs-Fragmente in diesem Puzzle verbergen, doch immer wenn man sich denen nähert werden sie von Phantasien verdrängt in denen sich Tracey mit ihrem Schwarm, dem „New Kid in Town“ sieht. Dann gelangen wir an den Punkt, an dem ihr Bruder verschwindet. Tracey macht sich auf den Weg nach Toronto um den Jungen zu finden. Begegnungen mit seltsamen Menschen, Alkohol, Gewalt und Verbrechen. Alles mischt sich mit den Visionen einer Superstar-Tracey mit ihrem Goldjungen – und wieder sind es noch düsterere Erinnerungen, die tief darunter lauern. „The Tracey Fragments“ ist zu gleichen Teilen Drama, Thriller und Komödie, streift ab und an (speziell in der drastischen Art wie er endet) den Horrorfilm, aber zum größten Teil ist er ein Experimentalfilm eines Ausnahmeküstlers und eine darstellerische Glanzleitung einer damals noch recht frischen jungen Schauspielerin. Bruce McDonald, der mir zuerst 1989 mit dem absurden Roadmovie-Musikfilm-Melodram-Horrorfilm „Roadkill“ aufgefallen ist und der mit dem thematisch ähnlichen, aber erheblich aufwendiger inszenierten „Route 61“ zwei Jahre später dann auch einen mainstreammäßigen Achtungserfolg hatte, verschwand danach sozusagen im Loch des TV-Auftragsarbeiters. Nicht, das seine Arbeiten auf dem kleinen Screen sonderlich schlecht gewesen wären, aber die eigene Sprache seiner Frühwerke blitzte nur ab und an mal durch. Zusätzlich ist die kanadische TV-Produktion (abgesehen von „Degrassi High“) nun auch nicht gerade international bekannt. „Tracey Fragments“ war somit seine erste wirklich eigenständige Arbeit nach Jahrzehnten von „Fabrikarbeit“ und führte zumindest dazu, dass er ein Jahr später noch den ebenfalls großartigen „Pontypool“ (wird demnächst an dieser Stelle besprochen) hinterherschieben konnte ehe er wieder bei „Degrassi“ und Co. landete. Für „Tracey Fragments“ erwarb er die Rechte an dem gleichnamigen Buch von Maureen Medved, die dann auch das Drehbuch selbst verfasste, das ebenfalls komplett im Kopf seiner Ich-Erzählerin spielte und natürlich auch einen puzzleartigen Charakter hat. Zur Umsetzung entschloss er sich zur Wiederbelebung des klassischen Split-Screens. Doch wo zum Beispiel Brian dePalma solcherlei Finessen nur in ganz bestimmten Szenen einsetzte, um gleichzeitig ablaufende Handlungsstränge miteinander zu verbinden, passiert bei McDonald erheblich mehr auf der Leinwand. Hier vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nur wenn man genau auf Ton und alle gleichzeitig ablaufende Bilder achtet weiss man wo sich die „Echtzeit“ befindet. Das hört sich jetzt kompliziert an, aber es ist erstaunlich wie gut das funktioniert. Die Bilder gleiten ineinander, überlagern einander, werden größer und kleiner, eine andere Zeitebene kommt hinzu, wird unterbrochen, wieder fortgeführtund läuft auch mal rückwärts ab. Damit erzeugt der Film tatsächlich so etwas ähnliches wie einen „Bewusstseinsstrom“; nie zuvor wurde die Welt unserer Gedanken so genau im Film dargestellt. Natürlich liegt hierbei eine ganze Menge der Verantwortung bei den beiden Cuttern Jeremiah Munce und Gareth C. Scales, die zusammen mit McDonald nach Abschluß der Dreharbeiten ein halbes Jahr dafür gebraucht haben, diesen visuellen Overkill zusammenzustellen. Ebenso muss man natürlich die Leistung von Ellen Page würdigen, die den Film – logischer Weise – nahezu komplett alleine tragen und dabei vielleicht noch mehr Emotionen zeigen muss, als bei ihrem ersten großen Hit „Juno“ der nur wenige Wochen zuvor gestartet war. Dass dem Film denoch kein großer Erfolg beschieden war mag daran liegen, dass das Konzept vielen potentiellen Zuschauern als zu komplex erschien. Erstaunlicherweise aber ist gerade dadurch, dass die Arbeit unseres Gehirnes hier sehr genau imitiert wurde, der Film viel zugänglicher als man vermuten würde. Hat man sich erst einmal an das Bombardement an Bildern gewöhnt, was nach spätestens 5 Minuten der Fall sein sollte, dann finden die Augen recht schnell die wichtigen Punkte auf dem – definitiv immer viel zu kleinen – Bildschirm. Leider ist „Tracey Fragments“ bisher schändlicher Weise nur auf DVD verfügbar, allerdings zumindest in der von Koch-Media gewohnten Qualität, so dass man – falls man nicht weiter warten will – ohne Probleme zuschlagen kann. Ich garantiere aber, dass jeder von euch nach der ersten Begegnung mit dem Film auf ein Update (oder gar eine Kinovorführung) hoffen wird. Dia
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