(Italien 1980) Cannibal holocausto / Nackt und zerfleischt / Kannibalmassakren / Shokujinzoku /
Regie: Ruggero Deodato Drehbuch: Gianfranco Clerici, Gianfranco Clerici, Giorgio Stegani Musik: Riz Ortolani Darsteller: Robert Kerman, Francesca Ciardi, Carl Gabriel Yorke, Perry Pirkanen
„Wir kümmern ist jetzt um Action! Du filmst alles, was Du nur kriegen kannst. Diese Eingeborenen sind nur wilde Tiere, so eine Gelegenheit bekommen wir nie wieder. Das Massaker der Yokumo! Ein anderer Stamm hat sie angegriffen, und wir drehen es, als wär's echt.“
Bei meinem zweiten Inselfilm geht es richtig ins Eingemachte; Ruggero Deodato schickte seine Darsteller zuerst in den Urwald und nach getaner Arbeit in den Urlaub. Das, was sich so erst einmal ganz nett anhört, entwickelte sich zu einem handfesten Skandal, der für den streitbaren Regisseur zeitweise in Untersuchungshaft und auf der Anklagebank endete. Aber der Reihe nach... In NACKT & ZERFLEISCHT/CANNIBAL HOLOCAUST verschwindet der Dokumentarfilmer Alan Yates mit seinem Kameramann und seiner Produzentin am Amazonas, die dort einen Bericht über die archaischen Bräuche der Eingeborenen-Stämme filmen wollten. Der TV-Sender, der diese Unternehmung finanzierte, engagiert den Anthropologen Prof. Harold Monroe, eine weitere Expedition zu begleiten, die den Verbleib der verschwundenen Filmcrew klären soll. Die Suche führt sie in eine abgelegene Gegend am Amazonas, wo sie Zeugen brutaler Riten werden. In einem Dorf der Yanomami machen sie eine grausige Entdeckung; die Mitte des Versammlungsplatzes des Dorfes ziert ein Totem aus Knochen mehrerer Menschen, daran hängen Filmrollen und in der Mitte eine zerstörte Kamera. Prof. Monroe und dem Führer Chaco gelingt es, die Filmrollen an sich zu bringen und kehren zurück nach New York. Als Monroe im Auftrag des Senders das Material sichtet, offenbart sich ihm ein abscheuliches Bild des skrupellosen Yates, der mit seinem Kameramann für gute Bilder über Leichen ging... NACKT & ZERFLEISCHT/CANNIBAL HOLOCAUST gilt heute noch als einer der härtesten Filme der Welle italienischer Exploitationfilme Ende der 70er, und wird von Fans als magnus opus von Ruggero Deodato wie auch als Höhepunkt des Kannibalenfilm-Genre angesehen. Schon einige Jahre vorher konnte Deodato mit MONDO CANNIBALE 2 – DER VOGELMENSCH/ULTIMO MONDO CANNIBALE, bei dem er für den eigentlich vorgesehenen Umberto Lenzi einsprang, ein wenig Dschungel-Luft schnuppern. Lenzi hatte das Subgenre mit MONDO CANNIBALE/IL PAESE DEL SESSO SELVAGGIO von 1972 quasi aus der Taufe gehoben, stellte aber für seine Arbeit Quasi-Nachfolger zu hohe Gagenforderungen. Deodato hatte gerade mit EISKALTE TYPEN AUF HEIßEN ÖFEN/UOMINI SI NASCE POLIZIOTTI SI MUORE (1976) seinen ersten Kinohit gelandet und konnte bereits dort eine eigene Handschrift vorweisen, die auch schon gewisse menschenverachtende Tendenzen und einen Hang zu fiesen Gewaltakten aufwies. MONDO CANNIBALE 2 handelte von einem Prospektor, der nach einem Flugzeugabsturz in die Hände eines Kannibalenstammes gerät. Um sein Überleben zu sichern, passt er sich deren Verhalten an und wandelt sich zu einem rücksichtslosen Wilden, der eine Frau des Stammes unterwirft und am Ende in eine menschliche Leber beißt, um seine Stärke und Überlegenheit als Jäger und Krieger zu demonstrieren. Drehbuchautor Gianfranco Clerici war ein Spezialist für „harte Stoffe“ - er schrieb später auch Lucio Fulcis DER NEW YORK RIPPER/LO SQUARTATORE DI NEW YORK (1982) – und arbeitete mit Deodato nach DER VOGELMENSCH auch an DER SCHLITZER/LA CASA SPERDUTA NEL PARCO mit David Hess, der bereits im September 1979 gedreht wurde, aber erst ein Jahr später in die Kinos kam. Er war die logische Wahl als Autor, als Deodato mit dem Projekt begann, dass durch deutsche Geldgeber, im speziellen des Vertriebs Jugendfilm, angestoßen wurde. Kannibalenfilme liefen trotz ihres schlechten Rufs und der Kritik an den unmenschlichen Gewaltdarstellungen (oder vielleicht auch gerade deswegen) in dieser Zeit sehr erfolgreich. Deodato wollte das Gezeigte so naturalistisch wie möglich halten, der Ansatz von Clericis Script ging weit zu den Wurzeln des Subgenre zurück, der in den Mondo-Filmen, die vor allem durch Filmemacher wie Gualtiero Jacopetti, Paolo Cavara und Franco Prosperi bekannt geworden sind, lag. Deodato griff bei seiner Inszenierung auf filmische Mittel zurück, die für die Zeit sehr ungewöhnlich waren und in Grundzügen dem kontemporären Found Footage Film ähneln. Die Zweiteilung des Films in die Erlebnisse der zweiten Crew und dem darauf folgenden Filmmaterial, das Yates und seine, wenn man so will, Mittäter gewissermaßen inszeniert haben, geht dabei auf die typischen Mondofilme zurück – gleichermaßen sind viele Vertreter des heutigen Found Footage ähnlich strukturiert –, mit dem Kurzfilm LAST ROAD TO HELL, der als Werk der im Film verschollenen Crew fungiert und aus teils echten Exekutionen besteht, wird den Vätern im Geiste direkt und unverhohlen Tribut gezollt; darin spiegelt sich auch gut sichtbar Deodatos zynische Grundhaltung zu dem Thema wider. Auch Jacopetti und Prosperi wurde im Laufe ihrer Karriere öfters vorgeworfen, der Realität ein wenig nachgeholfen zu haben, was ihr ehemaliger Weggefährte Paolo Cavara in seinem ersten fiktionalen Spielfilm DAS WILDE AUGE/L'OCCHIO SELVAGGIO bereits 1967 verarbeitete. Es ist gut möglich, dass Clerici sich auch von diesem Film für das CANNIBAL HOLOCAUST-Script inspirieren ließ, da dieser eine ähnliche Figurenkonstellation, nämlich den von Philippe Leroy dargestellten Journalisten Paolo, seinen Kameramann Valentino und eine junge Frau, die bezaubernde Delia Boccardo, damals erst 19 Jahre alt, beinhaltete. Und Deodato hatte auch, in der Art & Weise, wie er die unglaublichen Gewalttätigkeiten einfing und vor allem wie er später die damit konfrontierten Verantwortlichen beim Sender reagieren ließ, einen aktuellen Bezug im Auge, denn ihm selbst war die sensationalistische Berichterstattung über den linken Terrorismus in den Medien, die nie blutige Bilder von den Opfern von Anschlägen aussparten und von den Titelblättern mit geradezu schreienden Schlagzeilen kündeten, angewidert und wollte das im Film widerspiegeln. Ruggero Deodato war sich durchaus bewusst, dass er und sein Film zur gleichen, bigotten Industrie-Maschinerie gehörten, die mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit des zahlenden Publikums rang, und so trieb er dieses Gebahren mit CANNIBAL HOLOCAUST auf die Spitze; das Rohschnitt-Material der Yates-Crew sah dermaßen authentisch aus, dass man im Vergleich mit den echten Aufnahmen aus THE LAST ROAD TO HELL kaum sagen konnte, was nun echt und was gestellt war. Die eher schlechte Bildqualität, die ungünstigen Kamerawinkel und die hektischen Bewegungen erfüllten damit auch einen praktischen Zweck, denn es waren hier gar keine aufwändigen Spezialeffekte von nöten, um das ganze realistisch aussehen zu lassen, einige Fetzen Fleisch reichten aus, um wirkungsvoll den gewaltsamen Tod der drei Monster in Menschengestalt in Szene zu setzen. Außerdem wurde der Film teils im tiefsten Dschungel Kolumbiens gedreht, viele Orte waren nur mit dem Boot erreichbar. Die Darstellerinnen von nackten Eingeborenen engagierte die Crew aus örtlichen Freudenhäusern. Ein weiterer Kniff von Clericis Drehbuch waren die Szenen aus der zivilisierten Welt, die in diesem Genre den Kontrast zwischen natürlichen und urbanen Dschungel darstellten und sich hier, neben der Gespräche im Sender und die Sichtung des Films im Schneideraum, vorwiegend aus Interview-Fetzen mit Bekannten und Verwandten der verschwundenen Film-Crew zusammensetzen, die die einzelnen Mitglieder, allen voran Yates, in keinem guten Licht darstehen lassen. Er kopierte die Methoden der Boulevard-Presse, ein Thema in ihrem Sinne zu beleuchten und bis zum letzten gewinnbringend für sich auszuschlachten. Doch den richtigen Coup landeten Deodato und die Produktionsfirma dann zum Filmstart, denn den Darstellern, die allesamt in Italien und Europa eher unbekannt waren – Robert Kerman drehte zu der Zeit z.B. meist Erwachsenenfilme in New York –, wurde aufgetragen, erst einmal irgendwo in aller Abgeschiedenheit Urlaub zu machen und auch unter gar keinen Umständen Interviews zu geben. Der Film verfehlte seine Wirkung nicht und die Besucher standen in langen Schlangen vor den Kinos, um den Skandalfilm zu sehen. Nach 10 äußerst erfolgreichen Tagen wurde der Film dann von der Staatsanwaltschaft eingezogen, und Deodato, Clerici sowie das Produzenten-Gespann Di Nunzio und Palaggi fanden sich in Untersuchungshaft wieder, denn ihnen sollte unter dem Vorwurf der Obszönität der Prozess gemacht werden. Als das nicht gelang, wurde Deodato allein wegen Mordes und Leichenschändung vor Gericht gestellt, da man behauptete, er hätte wirklich Menschen für einige Szenen töten lassen und wenn nicht, zumindest echte Leichen verwendet. Da die Darsteller ja gerade nicht vor Ort waren, dauerte es eine Weile, diese schwerwiegenden Anschuldigungen zu entkräften. Auch anderswo auf der Welt hagelte es Verbote und Zensurauflagen, so in Deutschland, wo der Film reißerisch als NACKT & ZERFLEISCHT vermarktet und trotz erheblicher Kürzungen indiziert wurde. Die Beschlagnahme des Werkes folgte erst im Jahre 2000 und betraf die von Astro unter dem Original-Titel veröffentlichte, ungeschnittene Flickenfassung. In England forcierte der Verleih Go Video zwecks erhoffter verkaufsfördernder Publicity – DRILLER KILLER war durch sein blutiges Cover Artwork gerade in aller Munde – selbst einen Skandal, in dem man bei einer selbsternannten Sittenwächterin anonym das Verbot des Streifens forderte, der in der einer großangelegten Medienkampagne folgenden Beschlagnahme-Welle einer der ersten Video Nasties wurde. Selbst heute gibt es ihn auf der Insel nur in einer um den dort verbotenden Tier-Snuff, ein Markenzeichen des Kannibalenfilms italienischer Prägung, bereinigten Fassung zu kaufen; in Bezug auf die anderen Grausamkeiten aber zumindest ungekürzt. Wie ihr seht, ist NACKT & ZERFLEISCHT/CANNIBAL HOLOCAUST ein Film, der selbst heute einer gewissen Brisanz nicht entbehrt, zumal er in Deutschland immer noch beschlagnahmt ist, während bespw. Deodatos MONDO CANNIBALE 2, auch ein unglaublich brutaler Film, jüngst vom Index gestrichen wurde. Ich selbst hatte ihn das erste Mal 1994 in der Hand, als ich, gerade volljährig, durch die Videothek streifte, doch meine damalige Freudin wollte nicht, dass ich diesen Film oder den daneben geparkten NACKT UNTER KANNIBALEN mitnahm. Und so kam ich erst Anfang der 2000er in den Genuss dieses kontroversen Werkes, in der aus mehreren Fassungen zusammengeschnippelten, bzw. instandgesetzten Version von Astro. Ich habe den Film seither unzählige Male und vor allem mit sehr vielen verschiedenen Menschen gesehen, und es ist erstaunlich, dass tatsächlich keiner dabei war, der den Film als Schund bezeichnet oder vorzeitig die Sichtung abgebrochen hätte. Oftmals wurde der Film dann wegen seiner Tier-Snuff-Szenen kritisiert, einigen wurde übel, viele waren angeekelt, doch es hat sich jeder von ihnen mit dem Film und seiner Wirkung beschäftigt, gerade Leute, die er sehr emotional mitgenommen hat, bescheinigten ihn später eine seltene Qualität, dass er einen nicht einfach unberührt lassen kann. Und nie habe ich gehört, dass sich jemand bei dem Film gelangweilt hätte. Für mich ist es einer jener Filme, die so aus der Masse herausstechen, weil sie gleichermaßen intelligent mit dem Medium und seiner Funktionsweise spielen, aber auch genauso die sensationslüsterne Masse begeistern können, ohne sich (mal abgesehen von den erwähnten Szenen von Tier-Snuff) in irgendeiner Weise dafür schämen zu müssen, da er als Unterhaltungsprodukt ja gar nicht jeden gefallen muss, aber in seiner Intention, die Menschen zu bewegen, unbestreitbar Erfolg erzielt, gerade weil er auch polarisiert. Das Tüpfelchen auf dem „i“ ist noch die streckenweise wunderbare, schöne Musik von Riz Ortolani – auch wenn er sich für den Titel-Track an Michael Holms Liebesthema aus HEXEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT vergriffen hatte –, die den Schrecken auf der Leinwand sehr sinnlich konterkariert, wie auch dramatische Akzente zu setzen vermag und mit einfachsten Mitteln eine unangenehme Grundstimmung vermittelt. Für mich ist der Film ganz klar ein Meilenstein der Filmgeschichte, er rührt mich jedes Mal wieder aufs neue, verliert nie auch nur ein bisschen seiner Intensität, und wird mich in meinem Leben ganz bestimmt überall hin begleiten, egal wohin mein Weg mich führen mag.
Horny
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