"Coffin Joe" oder Die seltsamen Filme
Da viele Leser den Mann, von dem dieser Artikel handelt, wohl kaum genauer kennen, werde ich euch hiermit einen der radikalsten Filmemacher, den die Welt je gesehen hat, etwas näher vorstellen. José Mojica Marins wurde 1929 in Sao Paulo, Brasilien geboren. Sein Vater Antonio, ein Stierkämpfer, leitete später aus gesundheitlichen Gründen ein Kino. Dies nützte Klein-José natürlich aus, um sich bereits als Kind diverse Horrorklassiker anzusehen, obwohl diese damals für Minderjährige verboten waren. Da ihn diese Filme nicht schreckten, wollte er es besser machen. Sein Vater schenkte ihm zunächst eine 8mm und im Alter von 12 Jahren eine 16mm Kamera. Zwischen 1942 und 1944 entstanden mit Hilfe von Nachbarskindern 17 Kurzfilme, die bereits seine frühe Liebe zum Übernatürlichen dokumentieren. Nach einigen gescheiterten Versuchen, im Filmgeschäft Fuß zu fassen, entschloss sich José 1963 mit À Meia Noite Levarei Sua Alma (At Midnight I´ll take your soul away ) seinen ersten Genrebeitrag (und gleichzeitig Brasiliens ersten Horrorfilm) auf die Menschheit loszulassen. Marins Filme sind jedoch nur bedingt dem brasilianischen Cinema Novo (das solch ungewöhnliche Klassiker wie Macunaima von Joaquim Pedro de Andrade 1969 hervorbrachte) zuzurechnen. Seine Werke sind so außergewöhnlich, eigenständig und abgefahren, dass man sie kaum katalogisieren kann. Marins gehört zweifellos, genau wie Herschell Gordon Lewis und Andy Milligan, zu den frühen Pionieren von blutrünstigen Gewaltorgien. Im selben Jahr wie Blood Feast (von H.G.Lewis) schnitt Marins in À MEIA-NOITE LEVAREI SUA ALMA einem Widersacher mit einem abgeschlagenen Flaschenhals mehrere Finger ab, einem Anderen rammte er die Dornenkrone einer Christusstatue ins Gesicht.
In diesem Film entwickelt Marins sein von ihm selbst verkörpertes Alter Ego namens Zé Do Caixao (aka Coffin Joe). Der schwarzgekleidete bärtige Totengräber mit Zylinder und Cape und (teilweise echten) überlangen Fingernägeln, ist in diesem und dem Nachfolgefilm Esta Noite Encarnarei no Teu Cadáver (Tomight I´ll be incarnated in your corpse) von 1966 auf der Suche nach der perfekten Frau, die seinen Sohn gebären soll. Zé nimmt sich was er will. Er vergewaltigt und tötet nach Belieben. Das Kino Marins ist kaum mit dem phantastischen Kino Mexikos verwandt, welches hauptsächlich Schund und Wrestlingfilme der billigsten (aber trotzdem unterhaltsamen) Sorte hervorgebracht hat. Jess Francos Sex und Gewaltszenen und seine Perversitäten sind mehr oder weniger halbherzig gegenüber dem, was sich Marins schon in den 1960er Jahren erlaubte. Man hat den Eindruck, dass Franco (der ähnliche Themen wie Marins zum Inhalt hat) gerne mehr wollte, aber sich damals einfach nicht traute. Seine Filme sind nicht wirklich wichtig, aber das sind viele Kunstfurzfilme auch nicht, die von seriösen Kritikern in den Himmel gelobt werden. Ein Jacques Rivette langweilt. Marins jedoch lässt einen nicht kalt. In der ersten Episode "O Fabricante de Bonecas" (The Dollmaker) schlagen vier Halbstarke einen Puppenmacher nieder und vergewaltigen dessen Tochter. Diese findet Gefallen daran. Sie werden jedoch vom Puppenmacher erschossen. Am nächsten Tag sehen wir auf einem Strohhaufen vier blutüberströmte Köpfe mit leeren Augenhöhlen. Im Gegenzug erhalten vier Puppen jeweils ein neues Augenpaar. Die zweite Episode "Tara" (Obsession) handelt von einem heruntergekommenen Ballonverkäufer, der nur Augen für ein schönes Mädchen hat. Das Mädchen hat allerdings einen festen Freund. Am Hochzeitstag wird sie von einer Rivalin niedergestochen. Nachdem sie in einer Gruft aufgebahrt wird, dringt der Ballonverkäufer zu ihrer letzten Ruhestätte vor. Den nekrophilen Rest könnt ihr euch ja selber vorstellen. In der dritten Episode "Ideologia" (Theory) sehen wir eine live geführte Diskussion, in der Professor Oaxiac Odez (= ein Anagramm von Zé Do Caixao) seine bizarren Theorien dem Präsentator und anderen Teilnehmern erläutern möchte. Der Talkmaster geht aber nicht mit den Ideen von Odez konform. Nach dem Rededuell lädt Odez ihn und seine Frau zu sich nach Hause ein, um ihm seine Theorien weiter zu erläutern. Das geschockte Ehepaar möchte die perverse Szenerie verlassen, doch ein Diener verweigert ihnen den Abgang. Sie werden gefangen genommen und die burleske Show geht weiter. Am siebenten Tag ist es soweit. Die Frau wird freigelassen und kriecht hinter Odez her, der ihr Wasser verschaffen könnte. Er sticht jedoch ihren Mann mit einem Messer in den Hals. Das Blut wird mit einem Glas aufgefangen. Die Frau trinkt es gierig aus, doch es reicht ihr nicht. Sie stürzt sich an den Hals ihres Gatten und trinkt vom ausströmenden Lebenssaft. Nächste Szene. Odez beim Lunch. Unter zwei Tüchern verborgen sehen wir die abgetrennten Köpfe des Ehepaars, drapiert wie Schweineköpfe (inklusive Apfel im Maul). Senhores...bon apetite! Die Gefolgschaft von Odez stürzt sich nun in Kannibalenmanier auf die Hände, Füße und die restlichen Extremitäten des Paares. Während der Fressorgie werden immer wieder Schlangen, Echsen, Frösche und Mäuse eingeblendet. Nach dem das Wort FIM (brasilianisch für Ende) eingeblendet wird, folgen noch zahlreiche Explosionen sowie ein Bibelzitat, unterlegt mit einer Chorversion von „Ave Maria“. Die Goreszenen sind dermaßen hart und realistisch, dass sich einem der Magen umdreht. Wenn das jemand im „Revolutionsjahr“ 1968 in Europa gemacht hätte, wäre das ein Skandal sondergleichen geworden, gegen den sich die Aufregung um Jean Rollins nackte Ärsche in dessen Vampirfilmen vergleichbar harmlos ausgenommen hätte. Nehmen wir eine Szene aus À Meia Noite Levarei Sua Alma her. Weder in den USA noch in Europa hätte jemand 1963 gewagt, einer Frau Dutzende Ohrfeigen zu versetzen und ihr danach noch einige Faustschläge ins Gesicht zu verpassen. Danach tötet Zé seine Frau, die kein Kind zur Welt bringen kann , mit einer Tarantel, um danach seinen besten Freund umzubringen. Er vergewaltigt dessen Freundin, weil sie für ihn die richtige Frau ist, um ihm einen Sohn zu schenken. Diese nimmt sich kurz darauf das Leben. Die Person Zé Do Caixao taucht immer wieder in Marins’ Filmen (u.a. "Delirios de um Anormal" / Hallucinations of a deranged mind) auf. In der Fortsetzung seines ersten Horrorfilms Esta Noite Encarnarei no Teu Cadáver wird Zé zum Bestandteil der Geisterwelt und Herrscher einer anderen Dimension.
Marins’ Filme sind durchwegs extrem frauenfeindlich, wie besonders "Perversao" (1978) zeigt, in dem ein Millionär Frauen nach vollzogenem Liebesakt erniedrigt und quält. Die abgebissene Brustwarze eines Opfers bewahrt er als Jagdtrophäe auf. Allerdings werden die Männer meist für ihre Taten grauenvoll bestraft. Wie Marins im wirklichen Leben Frauen gegenüber eingestellt ist, kann ich nicht beurteilen. Er hat bis jetzt immerhin 24 oder 25 Kinder. Zunächst blieb er dem phantastischen Genre mit Filmen wie "Exorcismo Negro" (1974) treu. Später musste er aber aus Geldgründen auch Sex-und Pornofilme drehen. Aktuell moderiert Marins beim brasilianischen TV-Sender Canal Brasil die Show "O Estranho Mundo de José Mojica Marins", in der es um Medien und Kultur geht und wo auch diverse Künstler interviewt werden. Dies war jedoch nicht Marins erster Ausflug auf den Bildschirm. Seit 1968 war er als Host bei diversen mehr oder weniger bizarren Shows tätig. Bereits 1974 war Marins in Paris zu einem Fantasyfilm-Festival eingeladen und vor mehr als 15 Jahren tourte er für „Fangoria“ durch einige amerikanische Großstädte. „Something Weird“ Video hat die Rechte für englisch untertitelte Fassungen erworben und verkauft diese weltweit mit großem Erfolg. Marins ist nach wie vor im Filmgeschäft tätig. Mit dem Spätwerk "Encarnação do Demônio" (Embodiment of evil) von 2008 holte Marins sein Alter Ego Zé Do Caixao noch ein letztes Mal auf die Leinwand zurück und beendete damit die 1963 begonnene Trilogie.
Nach einem 40-jährigen Gefängnisaufenthalt ist Josefel Zanatas (Jose Mojica Marins) aka Coffin Joe erneut auf der Suche nach der perfekten Frau, um für ihn einen Sohn zu gebären. Seit 1959 tritt er auch als Schauspieler in Filmen anderer Regisseure auf, wie zum Beispiel als Ausserirdischer in dem Kinderfilm "O Gato de Botas Extraterrestre" (1990), der mit dem Gestiefelten Kater gegen einen bösen Zauberer kämpft. Wer mehr über das Leben und Schaffen von Marins wissen möchte, der sollte den Artikel „José Mojica Marins – The Madness in his Method“ in dem Magazin „Monster International“ #3 lesen. Dieser mehr als 30 Seiten umfassende Bericht ist der bisher ausführlichste Artikel über Marins in englischer Sprache. Ein weiterer feiner Artikel ist in dem Buch Mondo Macabro - Weird & Wonderful Cinema Around The World (1997) enthalten. „Splatting Image“ veröffentlichte ebenfalls einen Beitrag über Marins, der sich jedoch stark an dem „Monster International“-Artikel orientiert. In Frankreich fand ich im bereits 1967 erschienenen „Midi Minuit Fantastique“ in der Ausgabe # 17 Fotos von Marins erstem Horrorfilm. Auch in Deutschland wurde Marins schon Anfang der 1970er Jahre in der Zeitschrift „Vampir“ erwähnt. Selbst die brasilianische Metal-Band Sepultura zollte 1996 der Gestalt des Zé Do Caixao in dem Video „Ratamahatta“ Tribut. Zé tritt dort, wie auch andere legendäre brasilianische Persönlichkeiten (u. a. der Sklavenaufständler Zumbi) als Plastilin-Figur auf. Nicht zu vergessen der Song „Zé Do Caixao“ der US-Death Metal Urgesteine von Necrophagia aus dem Jahr 2003. 1978 drehte der von ihm beeinflußte Ivan Cardoso (O SEGREDO DA MÚMIA) die empfehlenswerte Doku "O Universo de Mojica Marins", welche einem das wahnsinnige Universum von Marins optisch näher bringt. Im Jahr 2001 folgte noch eine weitere sehenswerte Doku mit dem Titel "Maldito - O Estranho Mundo de José Mojica Marins". Ohne eine kurze Vorstellung von José Mojica Marins hätte ich euch wohl kaum auf das bisher einzige Buch, das es über ihn gibt, aufmerksam machen können. „ Maldito: A vida e o cinema de José Mojica Marins, o Zé do Caixão “ erzählt chronologisch den Werdegang von José Mojica Marins, den sie in den USA nur „Coffin Joe“ nennen. Natürlich ist das 22 ½ x 16 cm große Buch in seinem Heimatland Brasilien(1998) erschienen und selbst dort mittlerweile eine Rarität. 448 Seiten werden Marins und seiner alptraumhaften Welt gewidmet. Wer nicht portugiesisch spricht, kann sich zumindest an den unzähligen Fotos (auf einem ist er neben Roger Corman zu sehen) laben. Hier sind unzensiert viele der bizarren Exzesse von Marins detailliert (inkl. der Sex und Pornofilme, wo Darsteller u.a. als Kühe verkleidet poppen sowie Szenen à la Claudia hat ´nen Schäferhund) zu sehen. Fotos von den Dreharbeiten und etliche wundervolle Plakatmotive machen das Ganze zu einem Augenschmaus der etwas anderen Art. Die Fotoqualität ist ausreichend. Es gibt jedoch nur schwarz/weiss Abbildungen. Die Filmographie heißt hier Mojicografia und erstreckt sich über sage und schreibe 42 Seiten. Harald Dolezal
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