Sünde Von Christopher Derayes Herausgegeben von Christopher Wank, ©2018 „Der Schmerz glitt wie eine glühende Klinge durch ihren Körper, als die Pflanze ihre Körperhälften auseinander zog. Der blutige Riss wanderte in ihrem Schritt beginnend nach oben, bis an den Bauchnabel, und dann immer weiter. Mit einem Übelkeit erregenden Schmatzen quollen ihre Därme aus dem Riss und landeten dampfend zwischen den Ranken, während ihre Rippen mit einem Geräusch brachen, als würde jemand dürre Zweige zerbrechen...“
Es ist schon ein Kreuz mit phantastischer deutscher Literatur. Ebenso wie im phantastischen Filmbereich findet sie nur außerhalb des Mainstreams statt, obwohl die Wurzeln der gesamten Gattung tatsächlich im deutschsprachigen Bereich liegen. Autoren wie E. T. A. Hoffmann (1776-1822, Die Elexire des Teufels, Das steinerne Herz), Gustav Meyrink (1868-1932, Der Golem, Walburgisnacht), Thea von Harbou (1888-1954, Metropolis, Das indische Grabmal) und, wenn man den Rahmen weiter fasst, selbst Goethe und die Gebrüder Grimm bildeten in vielen ihrer Werke das, was man als die Grundlage der sogenannten gothischen Schauergeschichte bezeichnen kann und gaben ihr eine unverkennbar teutonische Richtung. Ebenso aber wie im Film wurden ihre phantastischen Bücher, Novellen, Gedichte und Märchen zur Zeit des „Vogelschißes der Geschichte“ als „Phantasie mit Schneegestöber“ (Zitat meines Opas) abgetan und galten in den Jahrzehnten danach als minderwertig bis hin zu „bäh-pfui“. Sicherlich gibt es mittlerweile einige deutsche Autoren, die im phantastischen Bereich einen Namen haben, aber weder – der von mir sehr geschätzte – Kai Meyer, der – von mir weniger geschätzte – Wolfgang Hohlbein, der – von den meisten nicht als Phantastik Autor wahrgenommene – Walter Moers oder der – unterhaltsame Pageturner-Autor – Andreas Eschbach, bieten wirklich originelle Ware, sondern lehnen sich stark an anglo-amerikanische Vorbilder an[1]. Das in den meisten Horror-Heftromanen amerikanische und englische Helden ihr Unwesen treiben soll hier nur nebenher erwähnt werden. Seitdem allerdings der Underground durch Selbst- und Kleinstverlage eine Nische gefunden hat, kann der suchende Leser ab und an eine Perle finden, muss sich dazu aber durch einen ganz schön großen Haufen Mist wühlen. Speziell wenn es um echte Horrorliteratur geht, scheinen deutsche Autoren zumeist nur dazu in der Lage zu sein extreme Splatterorgien ohne jeglichen storytechnischen Zusammenhalt zu verfassen. Es hat nichts mit Mut zu tun seitenlang stumpfe Metzelorgien und sexuelle Abartigkeiten zu beschreiben, die einzige Reaktion, die solche Bücher beim Leser zu erzeugen vermögen ist tatsächlich Abscheu und – nach einer gewissen Seitenzahl – Langeweile. Echter Horror, der zumeist im Kopf des Leser stattfindet und nur durch eine Einbettung in eine gut gebaute Welt mit lebendigen Charakteren funktioniert hat Seltenheitswert, die wenigen lesenswerten Werke (und da nehme ich meine EVIL ED Autoren Nic Parker und Alexander Jäger nicht von aus) sind nur selbiges, weil sie sich hinter Ironie, Absurdität und Humor verstecken. Ernsthafter Horror, der den Leser an der Gugel packt und zudrückt, ohne dabei seine „Deutschaftigkeit“ zu verlieren, also den direkt erkennbar teutonischen Ursprung erkennbar lässt, ist eine Seltenheit. Was uns dann endlich zu Christopher Derayes und seinem neuesten Werk bringt. „Sünde“ ist sündhaft gut! Das Buch besteht grundsätzlich aus sechs sehr unterschiedlichen Kurzgeschichten, die von einer siebten unterbrochen und eingerahmt werden. Im Gegensatz zu „normalen“ Anthologien allerdings erschließt sich dem Leser früher (sofern er ein kleines Latinum „genossen“ hat) oder später, dass zwischen all den morbiden Geschichten ein größerer Zusammenhang besteht. Damit meine ich jetzt nicht den offensichtlichen, der sich aus dem Titel und der Gesamtzahl der Stories ergibt, sondern tatsächlich einen komplett logischen Handlungsstrang, der sich durch das gesamte Buch zieht und es in dieser Hinsicht schon außergewöhnlich macht, da man es so weder genau als Roman noch als Kurzgeschichtensammlung einordnen kann. Auf den Inhalt einzugehen ist für mich in dieser Kritik dadurch natürlich auch ein Problem, denn schon alleine den Namen des Protagonisten zu verraten, würde mich auf einen rutschigen Pfad führen und dem Leser eine der frühesten Überraschungen verderben. Deshalb nur mal in Stichpunkten einige der dominanten Themen des Buches: Inzest, Suizid, BDSM, Serienmorde, Exorzismus, seltsame Botanik usw. usf. – Langeweile kommt dabei grundsätzlich natürlich schon einmal nicht auf, selbst wenn man spätestens nach der zweiten Story kapiert hat, dass die jeweiligen Protagonisten äußerst geringe Chancen haben deren Enden zu erleben. Ähnlich wie zum Beispiel Stephen King in seinen besten Shorts schafft es Derayes nämlich auf wenigen Seiten und fast schon skizzenhaft dem Leser seine Figuren nahe zu bringen und dafür zu sorgen, dass man – trotz all ihrer seltsamen Verfehlungen und Gelüste – eine gewisse Sympathie für sie entwickelt. Zusätzlich beherrscht er wie kaum ein anderer deutscher Genreautor das World-Building. Stylistisch ähnlich wie die frühen Werke von Clive Barker (hier bietet sich der Vergleich mit den „Books of Bood“ an) wird man in „Sünde“ in jede Story wie von einem unsichtbaren Staubsauger eingesaugt und verliert sich in den atmosphärischen Beschreibungen und der Gedankenwelt der lebendigen Charaktere. Immer wieder wiegt einen Derayes somit in Sicherheit und einer sanft gruseligen Fahrt über eine literarisch ansprechende aber recht ruhige See, bis dann der Sturm beginnt. Und wir reden hier nicht von einem lauen Lüftchen sondern von einem alles vernichtenden Orkan der Gewalt und des Schocks, der den Leser immer und immer wieder überrascht, selbst wenn man schon die ersten Stories intus und sich somit – analog des Skippers in Stokers Dracula - fest ans Steuerrad gefesselt hat. Wir haben bereits eine handliche Ausweidung überstanden, da überrascht Derayes mit einer Splatterszene, die aus Sicht einer Katze erzählt wird, um kurz darauf eine seiner menschlichen Figuren eine ähnliche Situation mit noch unerträglicheren Folgen zu bringen. Dabei ist er fast unerträglich detailfreudig, wortgewandt und immer nahe am Schmerzzentrum. Da werden Erinnerungen an die Splatterpunk-Szene aus den frühen 90ern wach in denen der Mix aus Sex und Gewalt von Autoren wie Joe R. Lansdale, David J. Schow, dem damals noch weiblichen Poppy Z. Brite und dem Gespann Skipp&Spector teilweise bis zum Exzess (speziell Poppy Z. Brites „Exquisite Corpse“, der in deutsch - als "Untiefen der Lust" - nur bei einem Verlag, der sich auf Homopornos spezialisiert hat, angeboten wurde, bietet sich hier als Lesebeispiel an) getrieben wurde. Was Derayes Werk aber so einzigartig macht ist, dass es niemals zu verleugnen versucht, dass es sich um ein deutsches Buch handelt. Nicht nur der Ort der Handlung, eine deutsche Kleinstadt, auch die Charaktere sind typische Deutsche, mit all ihren Schwächen und Stärken. Zusätzlich hat der Autor auch noch einen unglaublichen Wortschatz was eine eventuelle Übersetzung in andere Sprachen ungefähr so schwer macht, wie die damaligen Versuche Barkers Prosa ins Deutsche zu übertragen – eine Aufgabe an der eigentlich talentierte Übersetzer wie Joachim Körber ein ums andere Mal gescheitert sind. „Sünde“ ist eine Offenbarung auf dem sehr untergrundigen deutschen Horrormarkt und jeder, der auch nur im Entferntesten Interesse an intelligenter Schockliteratur hat sollte – nein MUSS – hier zuschlagen. dia
[1] Wie gesagt, ich liebe die Werke von Walter Moers, aber ohne Douglas Adams oder Terry Pratchett wäre er sicher nie auf seine Ideen gekommen. |
- Dia