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SICK: The Life and Death of Bob Flanagan – Supermasochist (1997)
Regie: Kirby Dick

 

Eine schon etwas ältere Dokumentation aus dem letzten Jahrhundert von Kirby Dick, die aber mangels Deutschlandstart ungerechter Weise hier leider recht unbekannt ist. Grund dafür dürften in erster Linie die im Film gezeigten Aktionen sein, die auch für den erfahrenen Augapfel eine echte Herausforderung darstellen.

In unserer Gesellschaft ist die Welt des BDSM quasi ein Paralleluniversum, zu welchem, im Gegensatz zu den üblichen Science Fiction Varianten, der Zugang auf vielfältige Weise möglich ist. Während die meisten Menschen gewissen Praktiken wie zum Beispiel Rollenspiele, Fetisch oder (sanfte) Flagellation durchaus einen gewissen Reiz zubilligen, stoßen die knallharten Varianten doch zumeist auf ziemliche Ablehnung. Die schnell geäußerte Bemerkung  „Das tut doch weh!“ und die zumeist ebenso schnell geäußerte Antwort „Das soll es auch!“ drücken vor allem das gegenseitige Unverständnis aus, weshalb man dieses Thema dann auch gerne schnell wieder zurück in die Schublade legt und liebevoll mit dem Mantel der Ignoranz bedeckt.

In „SICK: The Life and Death of Bob Flanagan – Supermasochist“ geht es, wie der Titel es schon ankündigt, um einen solchen extremen Masochisten. Bob Flanagan blieb dabei beileibe nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern ging dabei soweit, seine Methoden der Selbstgängelung auch als öffentliche Performance darzubieten. Einige der sich bis hierher getrauten Leserschaft kennen vielleicht seinen Auftritt im nebenstehenden Video „Happiness in Slavery“ von Nine Inch Nails.

Schnell ist der gemeine Mitmensch geneigt, Flanagan schlichtweg als „krank“ zu titulieren, wobei er in diesem Fall gar nicht mal so falsch liegt. Bob Flanagan litt an Mukoviszidose, auch zystische Fibrose (ZF, englisch cystic fibrosis, CF) genannt. Der Kern dieser Krankheit liegt darin, dass die Zellen der Betroffenen nicht ausreichend Flüssigkeit aufnehmen können und als Folge die Körpersekrete sehr dickflüssig sind, was wiederum zu multiplen Störungen an den Organen führt. Dies wird vor allem an der Lunge deutlich, die permanent eingeschleimt kaum noch zur Atmung taugt und ständig den Schleim über einen schmerzhaften Auswurf entsorgt. Die Krankheit ist genetisch bedingt und ist nicht heilbar.

Bob Flanagans Lebenserwartung war zum Zeitpunkt der Diagnose nicht besonders hoch. Die meisten Menschen mit dieser Krankheit starben seiner Zeit spätestens Anfang 20. Sein Leben lang litt er unter alltäglichem Schmerz und führte permanenten Kampf gegen seine Krankheit.

Dabei lernte er seinen Körper extrem genau kennen und nutzte ihn vielmehr als Forschungsobjekt um seine Grenzen auszuloten.

sick 6Sein künstlerisches Talent nutzend entwickelte er aus diesen Erkenntnissen schließlich SM-Shows mit seinem Körper in der Hauptrolle. Zusätzlich verfasste er Gedichte oder zynisch-humoristische Essays, die er im Stile eines Lenny Bruce ebenfalls öffentlich vorführte. Dabei wurde er von seiner Misstress und Partnerin Sheree Rose beim Ausloten des Möglichen tatkräftig unterstützt. (Und wer gerade den vorherigen Link im neuen Tab öffnete sollte auf jeden Fall mal den Film Lenny anschauen!)

Sein Freund und Dokumentarfilmer Kirby Dick hatte schließlich die Idee, über Bob einen Film zu machen. Dieser stimmte letztendlich zu, allerdings nur unter einer Bedingung: Die Dokumentation sollte auch seinen Tod mit einschließen. Dick liess sich darauf ein und begleitete Bob Flanagan bis seinem Ende und schuf so eine der beeindruckendsten Dokumentationen überhaupt:

SICK: The Life and Death of Bob Flanagan – Supermasochist

 

Sick - Short Trailer from Kirby Dick on Vimeo.

Wer jetzt eine Freakshow über einen Perversling erwartet, könnte kaum falscher liegen! Der Film zeigt einen Menschen der zeit seines Lebens sein Ende direkt vor Augen hat und es deshalb ausgesprochen intensiv gestaltet. Wir sehen einen lebensfrohen und sehr kreativen Zeitgenossen, der mit Kindern am Lagerfeuer singt, unglaublich selbstironisch mit seiner Krankheit umgeht und nebenbei Dinge mit seinem Körper anstellt, die den Zuschauer vor die eine oder andere Belastungsprobe stellen.

Die intensivste Szene dürfte dabei sein, als er seinen Penis mit einem Zimmermannshammer auf ein Brett nagelt und anschließend den Nagel mit der anderen Seite des Hammers wieder heraus zieht. Dabei tropft das Blut fleißig auf die Scheibe hinter der die Kamera(!) geschützt ist. Passend dazu erklingt „If I had a Hammer“ von Pete Seeger und – HEY! – das ist ja ein ganz anderes Lied! Spielt mir hier gerade mein Gedächtnis einen Streich? Ist ja schon ewig her, dass ich den Film auf der Berlinale gesehen hab. Aber irgendwie erwähnen alle Reviews dieses Lied und sonst lässt sich nichts an Information hierzu finden. Mmh.

Nun gut, ich habe Kirby Dick als sehr netten Menschen in Erinnerung, der nach der Vorstellung auch bereitwillig mit mir ein paar Sätze wechselte. Also in meiner Verzweiflung einfach mal höflich bei der Produktionsfirma angefragt und nach ein paar Tagen tatsächlich eine persönliche Antwort von Kirby erhalten! Der Song war in der Tat in der Festival Version enthalten, allerdings untersagte Pete Seeger (ohne den Film gesehen zu haben) über seinen Anwalt die weitere Nutzung. Daher nahm man für die Kino und DVD Auswertung einen anderen Song, Fair Use gab es damals leider noch nicht. Irgendwie schade, gibt aber in der historischen Wertung von Pete Seeger wohl höchstens ein paar Punkte Abzug in der B-Note, er entstammt halt einer anderen Generation. Aber großes Lob und vielen Dank an Kirby Dick!

Wo war ich? Ach ja, beim durchlöcherten Penis. Was soll denn jetzt noch kommen fragt Ihr? Ganz einfach, der härteste Teil des Films! Der langsame Niedergang Flanagans wird wie versprochen nicht ausgespart und da man Bob zwischenzeitlich sehr gut und vor allem intim kennengelernt hat, wirken die Zusammenbrüche, Krankenhausaufenthalte, das Koma und schließlich sein Tod schon sehr intensiv. Man leidet dabei nicht nur mit allen Beteiligten mit, sondern wird durch die Nähe der Kamera direkt zum Beteiligten. Diese Szenen treffen den Zuschauer bis ins Mark und beeindrucken wesentlich stärker als es ein festgenagelter Dödel jemals könnte.

Die große Qualität des Films liegt unzweifelhaft in seiner zutiefst humanen Herangehensweise. Kirby Dick sucht nicht die Antwort nach dem großen Warum, sondern lässt seinen Protagonisten einfach sein wie er ist und begleitet ihn, bis dieser mit 42 Jahren schließlich den Kampf gegen seine Krankheit verliert.

SICK gelingt es dabei sehr elegant, einen auf den ersten Blick abstoßenden oder zumindest sehr schrägen Charakter letztendlich als liebenswerten und fühlenden Menschen zu porträtieren. Trotz der drastischen Bilder ist der Film ein Fanal für Toleranz und Menschlichkeit, welches mit ziemlicher Sicherheit niemanden kalt lässt.

Sören Ney  

 

 

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