bluquer 

seit 21. September ungesehen im Kino
ab 25. Januar auf DVD/BluRay

Regie: Colin Trevorrow

Drehbuch: Gregg Hurwitz

Musik: Michael Giacchino

Darsteller: Jaeden Lieberher, Jacob Tremblay, Naomi Watts, Dean Norris

 

US KinoposterWenn es in den nächsten 20 Jahren mal ein Buch mit dem Titel „Hollywoods größte Verlierer“ geben sollte, dann wird darin mit Sicherheit ein sehr langes Kapitel über Colin Trevorrow zu finden sein – ein besonders trauriges, weil komplett unverdientes Kapitel. Denn Colin, der im Massenbewusstsein zumeist nur als der Regisseur des immer noch finanziell erfolgreichsten Filmes aller Zeiten („Jurassic World“) auftaucht, ist in Wirklichkeit ein Regisseur, der es wie vielleicht kein zweiter versteht, aus Drehbuchfiguren echte Menschen zu machen. Menschen mit Fehlern und kleinen Mäkeln, die auch mal falsche Entscheidungen treffen, aber dem Zuschauer immer sympathisch bleiben.

Menschen wie der Antagonist in senem ersten Kurzfilm „Home Base“ (den ihr hier sofort ansehen könnt), der sich eigentlich durchgehend wie ein Arschloch benimmt, aber trotzdem niemals wirklich böse erscheint oder die Heldin des gleichen Filmes, die eigentlich nichts verkehrt macht, aber trotzdem mit jeder Reaktion einen weiteren Fehler begeht.

Ein anderes wunderbares Beispiel für seine Arbeit ist sein erster Langfilm „Safety not guaranteed“ (2012), der als Plot den Bau einer Zeitmaschine hat, aber in Wirklichkeit ein Charakterdrama mit vier ganz unterschiedlichen Protagonisten ist, die alle im Verlaufe des Filmes eine Art Läuterung erfahren.

US Kinoposter2Womit dann auch die Frage beantwortet wäre, was Steven Spielberg dazu bewogen hat Tevorrow unter seine Fitiche zu nehmen, denn wer, wenn nicht Hollywoods Wunderkind der achtziger wäre in der Lage genau dieses Talent zu erkennen. Schließlich ist gerade Spielberg dafür bekannt, dass seine Figuren, selbst in effektüberfrachteten Filmen immer noch ein Herz und eine Seele haben und – leben.

Aber bei allem finanziellen Erfolg des „Jurassic Park“-Reboots/Sequels merkt man gerade diesem Film an, dass sein Regisseur in so fern überfordert ist, da er nichts von sich selbst mit einbringen kann und sich der Effektschlacht unterordnen muss. Einen Film wie „Jurassic World“ hätte demnach jeder Hollywood Auftragskiller (Renny Harlin?) inszenieren können, da dort tatsächlich nicht der Mann im Regiestuhl sondern die Brieftaschen des Produzententeams die künstlerische Leitung hatten.

So war es für mich damals auch ein ziemlicher Schock, als angekündigt wurde, dass Tevorrow die Regie des finalen Teiles der Star Wars Saga übernehmen sollte, denn so wirklich als Nerd ist er mir bisher nicht aufgefallen. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte wenn ein paar Figuren im Universum etwas mehr Tiefe bekommen würden, aber bei einem Teil IX ist das sicherlich nicht mehr der richtige Weg, da eignet sich jemand wie J.J.Abrams, der die Saga sozusagen atmet erheblich besser.

poster deutschAber das Thema hat sich ja mittlerweile auch erledigt, da Trevorrow sich ja schon in der Vorproduktion mit Kathleen Kennedy überworfen hat und mittlerweile aus dem Thema Big-Budget-Blockbuster verschwunden ist. Dass sein aktueller Film „The Book of Henry“ auch gnadenlos an den US-Kinokassen untergegangen ist, hatte wahrscheinlich ja auch noch ein wenig damit zu tun, also kommen wir nun endlich – nach fast 500 Worten – auch mal dazu.

Der Film erzählt – wen man der Werbung glaubt – die Geschichte eines 11-jährigen Jungen, der vermutet, dass sein Nachbar seine Stieftochter missbraucht und deshalb beschließt, diesen umzubringen. Dazu erfindet er einen detaillierten Plan, den er im titelgebenden Buch festhält.

Das US-Plakat (siehe Bilder im Einleitungstext) – im totschicken 80er Jahre Design und leuchtendem Orange gehalten – zeigt eine Collage von Motiven, die überdeutlich vom mit einer Fliegerkappe und –brille bekleideten Kopf des Jungen dominiert wird.

Bei einer weiteren Plakatvariante sehen wir Henry und seinen kleinen Bruder von hinten fotografiert vor einer vollgeschriebenen Tafel stehen, wobei auch hier der große Junge mit der Fliegerkappe bekleidet ist und zusätzlich noch einen Pömpel in der Hand hält.

Erstaunlicher Weise ist das europäische Plakat, auf dem man das Buch sieht, auf dem ein Foto der Mutter (Naomi Watts) mit ihren beiden Söhnen und ein weiteres - dazugeklebtes - mit der Nachbarstochter zu sehen ist, als das Einzige der Motive, dass auch nur im Entferntesten den Film repräsentiert, denn...

...und hier muss ein ganz großes

denn

stehen, „The Book of Henry“ ist so viel mehr als ein netter Jugend-Abenteuerfilm.

henry01Henry (Jaeden Lieberher), der titelgebende 11-jährige, ist ein hochbegabtes Kind in einer Welt voller Menschen, die ihn nicht verstehen können – oder wollen. Zusammen mit seinem kleinen und eher normal begabten Bruder Peter (Jacob Tremblay), den er abgöttisch liebt und vor allem Unbill beschützt, baut er unter anderem in einem aus Müll selbst gezimmerten Haus im Wald komplizierte Rube-Goldberg-Maschinen. Ebenso hilfsbereit und liebend verhält er sich gegenüber seiner alleinerziehenden Mutter (Naomi Watts), die, offensichtlich überfordert, zum Alkoholismus neigt und ihre Freizeit am liebsten vor der Spielkonsole verbringt.

Seine Lehrer und vor allem die Rektorin seiner Schule würden ihn gerne auf einer Spezialschule unterbringen, weil sie denken er sei unterfordert, aber Henry möchte weder seinen Bruder, der immer wieder Opfer von Bullies ist, alleine lassen, noch den Kontakt zu normalen Altersgenossen abbrechen.1.

Als Henry dann tatsächlich mit bekommt, dass die Nachbarstochter unter ihrem Stiefvater zu leiden hat, versucht er erst sein Umfeld zur Hilfstellung zu bewegen und wendet sich dann an die dafür zuständigen Behörden. Beides ist nicht von Erfolg gekrönt, da es sich bei dem Täter (Dean Norris, wieder einmal großartig zwielichtig) gleichzeitig auch noch um den Polizeichef des Städtchens handelt und der Chef des zuständigen Jugendamtes dessen Bruder ist.

So könnte der Film eigentlich locker über die Runden kommen, aber wer das glaubt hat die Rechnung ohne das Drehbuch gemacht,

 

DENN

 

und das muss man noch viel größer schreiben und darauf hoffen, dass die normale Filmpresse es dem potentiellen Zuschauer nicht versaut, nun erfolgt ein Plottwist, der „Book of Henry“ in eine Richtung treibt, die um so vieles anders ist, als jegliche Erwartungshaltung des Zuschauers.

henry05Ausgehend von der oben beschriebenen Grundkonstellation der Figuren und ihrer Probleme wechselt der Film nun sowohl Richtung als auch Genre, das pure und nachvollziehbare Drama bekommt eine leicht phantastische Note (Nein, das soll nicht alles realistisch wirken – ihr werdet diese Klammer NACH dem Sehen verstehen), die Thrillerelemente werden betont und wenn überhaupt noch möglich, wird der Film noch gefühlvoller und beeindruckender, als er es in seiner ersten Hälfte schon war.

Offensichtlich ist es nicht einfach „Book of Henry“ aufgrund seiner Geschichte weiter zu empfehlen, zu sehr droht hier die Gefahr zu viel zu verraten und dem Zuschauer ungewollt den Spaß zu verderben und ich befürchte, dass das in vielen der näher zur deutschen Veröffentlichung erscheinenden Kritiken der Fall sein wird.

So stark wie die erste Hälfte des Filmes bereits durch den großartigen Charakteraufbau aller Figuren ist, so überragend entwickelt er sich dann auch in der zweiten weiter. Was Trevoroff und Drehbuchautor Gregg Hurwitz hier geschaffen haben ist ein kleines Meisterwerk, dessen wirkliche Stärken sich wahrscheinlich erst in ein paar Jahren offenbaren werden, wenn er durch Mundpropaganda sein Publikum erreicht hat. Denn egal mit welcher der drei oben beschriebenen Werbekampagnen er letztendlich versucht, sich dem Zuschauer anzupreisen, er wird – wie es ja bereits das überaus dürftige Einspielergebnis in den USA und der komplett übersehene Kinostart in Deutschland (21. September) gezeigt haben – grandios scheitern.

henry02„The Book of Henry“ ist kein Film für die Masse, was man vom Regisseur von „Jurassic World“ schließlich erwartet hatte, sondern eher etwas für Cineasten, denen Filmkunst und großartige schauspielerische Leistungen mehr am Herz liegen, als große Explosionen und Gewaltexzesse. Besonders bemerkenswert ist hier vor allem die Leistung von Naomi Watts, deren Figur eine Vielschichtigkeit aufweist, die man ihr in dieser Form nicht zugetraut hätte und die einmal mehr beweist, dass es auch in Hollywood für eine weibliche Darstellerin noch möglich ist ohne Zusätze von Silikon oder Botox eine Karriere jenseits der 40 zu haben.

Zusätzlich bewundernswert ist auch, dass der Film komplett ohne gezeigte Gewaltszenen auskommt, aber trotzdem in vielen Szenen schockierender ist, als so mancher Horrorfilm. Dabei hilft auch die tatsächlich grandiose Musik von Michael Giacchino, der - ebenfalls aus dem Korsett der Star Wars-Saga befreit - hier wieder einmal mehr zeigt, dass er einer der derzeit fähigsten Filmmusikkomponisten ist.

Letztlich stellt sich natürlich für jeden potentiellen Zuschauer (und ganz speziell für EDdies) nun die Frage, ob der Film nun was für ihn ist. Das müsst ihr Euch leider selbst beantworten – für mich, als jemand der in den letzten Jahren von Filmen wie „The VVitch“ und „A Monster calls“ bedeutend mehr beeindruckt war, als von der Massenware, die die Kinosäle füllt, ist es einer der besten Filme des Jahres 2017, auch wenn beide Vergleiche stark hinken.

henry04Zum Schluß nochmal ein Schwenk zur Einleitung des Artikels. Mittlerweile bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich sehr gerne gesehen hätte, was Colin Trevorrow aus dem letzten Teil der Skywalker-Serie herausgeholt hätte, wenn man ihn gelassen hätte. Auf der anderen Seite aber respektiere ich auch seine Entscheidung sich lieber persönlicheren Filmen zu widmen und bin sehr gespannt womit er mich beim nächsten Mal überraschen wird.


dia

1. Eine Situation, die ich persönlich aus meinem eigenen Leben und von dem meines Sohnes kenne, zumal ich noch darunter leiden musste, dass die sogenannte „Hochbegabung“ in den frühen 70er Jahren noch als eine Art Geisteskrankheit angesehen wurde, die man nur mit „Der Junge muss sich halt anpassen und die wirren Gedanken aus dem Kopf kriegen“-vertreiben konnte. Seinerzeit wurde man dann zum Sport gezwungen und im Deutschunterricht einfach außen vor gelassen, da die Lehrerschaft noch nicht in der Lage war mit 8-12-jährigen, über den Sinn literarischer Experimente und grammatikalischer Besonderheiten - wie Schachtelsätze - oder einen 10-seitigen Aufsatz über einen Blick aus dem Fenster, zu diskutieren. Was bei mir schließlich dazu führte, dass meine literarische Karriere endete, bevor sie eigentlich begonnen hatte und ich jetzt im Internet Texte verfasse, die kaum jemand liest.

Dass dies in den 90ern auch noch nicht besser war, sieht man daran, dass mein Sohn, dank mangelnder Förderung, seine schriftstellerischen Qualitäten erst jetzt – mit fast 30 Jahren – entdeckt.

Entschuldigt bitte diesen Diskurs, aber das kotzt mich heute noch an. :)


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